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Titel
Hinter dem Ladentisch. Eine Familie zwischen Kolonialwaren und geistlichen Herren


Autor(en)
Spirig, Jolanda
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
von
Anna Bähler

Von 1940 bis 1968 befand sich an der Staufferstrasse 22 im Brunnadernquartier in Bern ein Kolonialwarengeschäft. Geführt wurde der Laden von einer Frau, deren Familienleben für die damalige Zeit etwas ungewöhnlich war. Die Autorin Jolanda Spirig, die seit 1995 mehrere Bücher zum Alltagsleben von Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten veröffentlicht hat, zeichnet in ihrer neusten Publikation die Geschichte dieser Frau und ihrer Familie nach. Dabei stützt sie sich auf Familiendokumente wie Tagebücher und Geschäftsunterlagen sowie auf zahlreiche Gespräche mit der 1941 geborenen Tochter Martha Beéry-Artho.

Die Detaillistin Martha Weibel war mit 27 Jahren aus der Ostschweiz nach Bern gezogen, wo sie eine Stelle als Verkäuferin in einem Tuch- und Kolonialwarenladen gefunden hatte. Nach ihrer Heirat mit Moritz Artho, dem Gärtner-Chauffeur der Nuntiatur, eröffnete sie ihr eigenes Geschäft, das aus rechtlichen Gründen auf den Namen des Mannes eingetragen war. Martha Artho-Weibel erwies sich als erfolgreiche Geschäftsfrau, deren Einkommen schon bald jenes des Ehemanns überstieg, was offenbar nie zu Unstimmigkeiten zwischen den Eheleuten führte, obwohl gemäss dem damaligen Geschlechterbild der Ehemann wenn möglich Alleinverdiener zu sein hatte. Ein wichtiges Thema der Publikation ist die zeitlich umfangreiche und körperlich anstrengende Arbeit von Martha Artho-Weibel im Kolonialwarengeschäft und wie sie dabei von ihrem Mann, ihren drei Töchtern und weiteren Familienangehörigen unterstützt wurde. Ebenso wichtig ist die katholische Prägung der Familie und ihre Nähe zur Nuntiatur. Vieles wird aus dem Blickwinkel der Tochter Martha Beéry-Artho geschildert, die damit zur Hauptfigur im Buch wird.

Mit Exkursen in die allgemeine Geschichte, besonders aber in die Geschichte der Nuntiatur und von deren Verhältnis zum Faschismus, bettet die Autorin das familiäre Geschehen in den historischen Kontext ein. Sie erzählt die Familiengeschichte anschaulich, gemächlich und facettenreich, was vor dem inneren Auge der Leserin ein detailliertes Bild entstehen lässt, gelegentlich aber auch zu Wiederholungen von wenig bedeutenden Einzelheiten führt. Zudem haben sich ein paar Ungenauigkeiten zu Berner Örtlichkeiten eingeschlichen, was möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass die Kindheitserinnerungen der Hauptzeugin im Lauf der Zeit ein wenig ungenau geworden sind – ein Phänomen, das sich in der Oral History nicht vermeiden lässt. Der ausgestopfte Barry beispielsweise war im Naturhistorischen Museum ausgestellt, nicht im Alpinen Museum, und die in die Brunnenanlage am Thunplatz integrierte Fassade hat nichts mit einem ehemaligen Wasserschloss zu tun, sondern stammt von der um 1910 abgebrochenen Bibliotheksgalerie an der Hotelgasse. Auch die Sprache ist manchmal nicht ganz präzis. So wird der Leserin nicht immer auf Anhieb klar, wie neu auftauchende Tanten, Onkel und Cousins in die weitläufige Verwandtschaft der Protagonistinnen einzuordnen sind.

Die Publikation ist keine wissenschaftliche Studie und hat auch nicht den Anspruch, dies zu sein. Die Autorin vermischt die Erzählung gelegentlich mit eigenen Kommentaren. Ihre Haltung gegenüber der katholischen Kirche, insbesondere den Herren der Nuntiatur, scheint immer wieder durch, und auch kurze persönlich gefärbte Bemerkungen zur fehlenden politischen und rechtlichen Gleichstellung der Frau sind wiederholt in den Text eingestreut. Hingegen ist dank der Anmerkungen und des Nachworts immer klar, auf welche Quellen und Literatur sich die Autorin stützt. Insgesamt entwirft sie ein stimmiges und gut lesbares Bild einer Familie, die in der unteren Mittelschicht anzusiedeln ist, ihren Lebensunterhalt und gesellschaftlichen Status nur mit harter Arbeit sichern konnte und von Schicksalsschlägen nicht verschont blieb. Bücher wie die vorliegende Publikation sind in der Geschichtsschreibung von Bedeutung, weil sie die Menschen als Subjekte zeigen, die zwar von ihrer familiären Herkunft, ihrem Umfeld und ihrer wirtschaftlichen Situation geprägt sind, aber ihren Handlungsspielraum auch auszunutzen wissen. Das ist der Autorin mit dieser Erzählung gut gelungen.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Spirig, Jolanda: Hinter dem Ladentisch. Eine Familie zwischen Kolonialwaren und geistlichen Herren. Zürich: Chronos 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 74-75.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 74-75.

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